CfP

Abstracts erbeten bis zum 01.09.2020 an: ulrich.binder(at)ph-ludwigsburg.de und fkroenig(at)th-koeln.de

Call for Papers für den Sammelband

»Paradoxien (in) der Pädagogik«

(Ulrich Binder & Franz Kasper Krönig)

Es ist mittlerweile ein Stehsatz, dass moderne Systeme nicht länger mit großen traditionellen Vorstellungen von Natur oder Vertrag beschrieben werden könnten. Deren Signatur seien vielmehr Paradoxien als Bedingung, Folge oder Indikator der Ausdifferenzierungs-Autonomie (vgl. systematisierend z.B. Münch 1984, programmatisch z.B. Luhmann 1987; historisierend z.B. Hagenbüchle & Geyer 2002). Das, was als Beschreibung einer Gesellschaft zu erkennen ist, sei lediglich die Transkription solcher Paradoxien. Dermaßen würden verschiedene Unterscheidungen hervorgebracht, z.B. Kollektiv/Individuum, Gesellschaft/Gemeinschaft, die ihrerseits dann (temporär) überzeugen können – bisweilen wieder als „große traditionelle Vorstellung“.

Diese These wird bekanntermaßen immer wieder auch in Bezug auf pädagogische Wissenschaften, Praxen, Organisationen und Professionen diskutiert (vgl. für jüngere Reflexionen z.B. Helsper 2004, Zimmer 2006, Esslinger-Hinz & Fischer 2008, Breidenstein & Schütze 2008, Radtke 2010, Hug 2015, Wimmer 2017, Binder 2018).

In einem Sammelband soll diese Tradition, den (vorgeblich) originären, spezifischen und funktional konstitutiven Paradoxien der Pädagogik nachzugehen, nicht nur weitergeführt, sondern auch modifiziert werden.

Dafür bieten sich vier Perspektiven an:

a) Reflexion pädagogischer Paradoxien: Inwiefern die Pädagogik in ihrer Operationsweise Paradoxien erzeugt, mitführt und bearbeitet

Es gibt eine Vielzahl an zu Klassikern geronnene Beschreibungen der modernen Pädagogik als paradox bzw. Paradoxien bearbeitend (z.B. Freiheit/Zwang, Nähe/Distanz usw.) (vgl. Tenorth 1992, Wimmer 2016). Paradoxien würden wie auf einem „Verschiebebahnhof“ (Paetow 2004) dialektisch oder temporal so bearbeitet, dass sie Operationen nicht behindern. Die permanent mitlaufende paradoxale Selbstreferenz stelle dann durch ihre Eigenart eine Funktion im Hinblick auf die Autonomie der Pädagogik und zugleich eine nicht- endende Herausforderung für sie als (ihre eigene) Reflexionsinstanz dar.

b) Relativierung (der Reflexion) pädagogischer Paradoxien: Inwiefern sog. pädagogische Paradoxien tatsächlich (als) Paradoxien (erkennbar) sind

Die Vorhaltung einer „Flucht in die Paradoxie“ (Bühl 2000) begleitet solche Thematisierungen. Aus dieser Warte wird an pädagogischen Paradoxien respektive deren Besprechungen beanstandet, dass es sich um teils unbegründete und überhöhende, unreflektierte und inflationäre handle. Zusätzlich zum Beliebigkeitsvorwurf wird auch eine Unterkomplexität moniert, weil die epistemischen Schwierigkeiten, Paradoxien erkennen und kommunizieren zu können, nicht immer gebührend in Rechnung gestellt würden (Warzecha 2004).

c) Infragestellen (der Reflexion) von pädagogischen Paradoxien: Inwiefern das Besprechen von pädagogischen Paradoxien lediglich als Spielart alter Wahrheitspostulate gesehen werden muss

Die postmoderne Version der Diskursivität des Wissens sieht Widersprüche primär zwischen Perspektiven und Interessen und weniger zwischen nicht letztbegründbaren Wahrheitspostulaten, von denen Paradoxien letztlich nur eine Ableitung wären. Ausgehend von der These, dass moderne Beschreibungen in vielerlei Hinsicht ihre Kraft bzw. ihre Relevanz verlören, wird auch das Ende der (Zugriffe auf) Paradoxien ausgerufen. Moderne Paradoxien seien längst derart in die pädagogischen Grundbegriffe als Binnenverhältnisse eingewandert, dass die Relationen von Begriffen zueinander, etwa von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung, nicht mehr sinnvoll als Paradoxien formulierbar oder greifbar seien (Rømer 2011, Weiß 2020).

d) Reformulierung und Radikalisierung pädagogischer Paradoxien. Inwiefern von einem paradoxen „permanenten Comeback“ pädagogischer Paradoxien zu reden ist

Neuere Entwicklungen wie z.B. die post-critical pedagogy (Hodgson, Vlieghe & Zamojski 2017) einerseits, Transformationen von/in herkömmlichen Bereichen wie z.B. der Interkulturellen Pädagogik andererseits, lassen aber auch den Schluss zu, dass es stets zu ungekannten Re-Paradoxierungen kommt. Herkömmliche Ent-Paradoxierungen (z.B. Externalisierung, Invisibilisierung, Verzeitlichung; vgl. Esposito 1991) erzeugten ihrerseits Paradoxien, die so noch nicht am Radar waren. Es gilt folglich, die Konstruktionsprozesse dieser neuen Unterscheidungen ebenso wie deren Effekte – exemplarisch: die interne und externe Bearbeitung pädagogischer Paradoxien im Bereich „Gerechtigkeit“ – zu beobachten.

Auf solche Formate des pädagogischen „Paradoxiemanagements“ (Binder 2016) könnte in dem Sammelband z.B.

  • plausibilisierend, ergänzend und erweiternd bzw. ihnen widersprechend,
  • laborhaft theoretisierend oder kontextualisierend (z.B. die Paradoxien des Lehrberufsoder die Paradoxien der Bildungssteuerung usw.),
  • binnenperspektivisch (z.B. die Paradoxien pädagogischer Theoriebildungen) oder denBlick weitend (z.B. pädagogische Paradoxien in Feldern wie „der Wissensgesellschaft“)zugegriffen werden. Willkommen sind Beiträge aus allen pädagogischen Teilbereichen!Ein Exposé wäre bis bis zum 1. September 2020 an ulrich.binder@ph-ludwigsburg.de & fkroenig@th-koeln.de zu senden.

Literatur

Binder, U. (2016). Die Analyse erziehungswissenschaftlicher Wissenserzeugung als Paradoxiemanagement. Einführung in den Thementeil. Zeitschrift für Pädagogik 62/4, 447-451.
Binder, U. (Hrsg.) (2018). Modernisierung und Pädagogik – ambivalente und paradoxe Interdependenzen. Weinheim: Beltz Juventa.

Bühl, Walter L. (2000). Luhmanns Flucht in die Paradoxie. In G. Wagner & P.-U. Merz-Benz (Hrsg.), Die Logik der Systeme: Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns (S. 225-256). Konstanz: UVK.
Esposito, Elena (1991). Paradoxien als Unterscheidung von Unterscheidungen. In H. U. Gumbrecht & L. Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie (S. 35-57). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hagenbüchle, R. & Geyer, P. (Hrsg.) (2002). Das Paradox: Abendländische Herausforderung. 2. Auflage. Würzburg: Könighausen & Neumann.
Helsper, Werner (2004). Antinomien, Widersprüche, Paradoxien. Lehrerarbeit – ein unmögliches Geschäft? In F.-U. Kolbe, B. Koch-Priewe, B. & J. Wildt (Hrsg.), Grundlagenforschung und mikrodidaktische Reformansätze zur Lehrerbildung (S. 49-98). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Hodgson, Naomi, Joris Vlieghe & Piotr Zamojski (2017). Manifesto for a Post-Critical Pedagogy. Santa Barbara: punctum books.
Luhmann, Niklas (1987). Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft. Zeitschrift für Soziologie 16 (3), 161-174.

Münch, R. (1984). Die Struktur der Moderne. Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Paetow, Kai (2004). Organisationsidentität. Eine systemtheoretische Analyse der Konstruktion von Identität in der Organisation und ihrer internen wie externen Kommunikation. http://ediss.sub.uni- hamburg.de/volltexte/2005/2413/pdf/Dissertation.pdf [20.12.2019].

Radtke, Frank-Olaf (2010). Paradoxien Interkultureller Pädagogik Oder: Wie sieht’s aus mit Euerer Identität? In A. Hirsch, R. Kurt (Hrsg.), Interkultur – Jugendkultur. Bildung neu verstehen (S. 145-174). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Rømer, Thomas Aastrup (2011). Postmodern Education and the Concept of Power. Educational Philosophy and Theory 43 (7), 755-772.

Tenorth, Heinz-Elmar (1992). Paradoxa, Widersprüche und die Aufklärungspädagogik. Versuch, die pädagogische Denkform vor ihren Kritikern zu bewahren. In J. Oelkers (Hrsg.), Aufklärung und Moderne (S. 117- 134). Weinheim: Beltz.
Warzecha, Bettina (2004). Organisationale Planungstheorie. Die Erkenntnis ihrer paradoxen Grundmuster als Möglichkeit einer vereinfachten theoretischen Handhabung. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag.
Weiß, Gabriele (2020). Spiel. In G. Weiß & J. Ziras (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie (S. 77- 87). Wiesbaden: Springer VS.
Wimmer, Michael (2016). Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik. Paderborn: Schöningh.
Wimmer, Michael (2017). Die performative Kraft von Paradoxien. In Ch. Thompson & S. Schenk (Hrsg.), Zwischenwelten der Pädagogik (S. 345-369). Paderborn: Ferdinand Schöningh.